Entscheidung der Woche 02-2025 (ZR)
Marie-Christin Runkel
Die Leitung des Tieres durch den Menschen schließt spezifische Tiergefahren nicht zwangsläufig aus.
Aktenzeichen und Fundstelle
Az.: BGH VI ZR 381/23
Fundstelle: NJW 2024, 3293
MDR 2024, 1313
A. Orientierungs - oder Leitsätze
1. Die Leitung des Tieres durch den Menschen schließt spezifische Tiergefahren nicht zwangsläufig aus.
2. Auch in den Fällen, in denen die menschliche Leitung nur in einem Anstoß für das tierische Verhalten besteht, dieses ausgelöste Verhalten aber mangels physischer Zugriffsmöglichkeit nicht mehr der menschlichen Kontrolle unterliegt, gibt es keinen Grund, eine spezifische Tiergefahr zu verneinen, die sich aus der selbstständigen Bewegung des Tieres, seiner Energie und Kraft ergibt.
B. Sachverhalt
Der Beklagte (B) war Halter eines Hundes mit dem seine Tochter (T) im Juli 2020 gegen Abend auf einem Feldweg spazieren war. Der Hund war mit einer Schleppleine angeleint. Neben dem Weg befand sich ein weitläufiges Feld, das mit hohem Gras bewachsen war. Es kam dort zu einem Zusammentreffen mit einer Frau (F), die ihren Hund ebenfalls auf dem Feldweg ausführte. Beide Hunde befanden sich auf dem angrenzenden Feld und entdeckten ein Mäuseloch, auf das sie zuliefen. Die F lief ihrem Hund hinterher und wollte ihn von dem Loch wegziehen, während T den Hund ihres Vaters zurückpfiff. Der Hund hörte sofort und rannte zu T zurück. Allerdings war die F, als sie ihrem Hund gefolgt war, in eine Schlaufe der Schleppleine des anderen Hundes getreten. Als dieser Hund zu T rannte, zog sich die Schleppleine um das Bein der F fest und riss sie auf den Boden.
Dadurch erlitt F Verletzungen an ihrem Bein und musste im Krankenhaus stationär behandelt werden. Sie forderte von B den Ersatz ihrer Heilbehandlungskosten.
Zwischenzeitlich ist der B verstorben, sodass sich der Anspruch der F nunmehr gegen dessen unbekannte Erben, die von einem Nachlasspfleger vertreten werden.
C. Anmerkungen
Für den Anspruch gegen den Tierhalter aus der Gefährdungshaftung kommt es wesentlich darauf an, ob sich durch das Zurückrennen des Hundes auf Kommando eine tierspezifische Gefahr verwirklicht hat. Der BGH stellt dafür darauf ab, ob ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbares und selbstständiges Verhalten des betreffenden Tieres für den Eintritt der Rechtsgutverletzung adäquat ursächlich geworden ist. Der Tierhalter haftet in diesem Fall aus dem Grund, dass er das Tier in die Umwelt entlässt, ohne eine vollständige Kontrolle ausüben zu können. Das Tier muss eine "selbstständige tierische Energie" bewirken. Gegen die Verwirklichung einer spezifischen Tiergefahr spricht es, wenn das Tier lediglich der Leitung und dem Willen des Menschen unterliegt und dessen folgt. In derartig gelagerten Fällen kommt eine Haftung nur in Bezug auf den Menschen in Betracht, nicht aber aus § 833 BGB.
In seinem Urteil nimmt der BGH eine Ausweitung der bisherigen Auslegung der Tiergefahr vor. Aus dem Wesen des lebendigen Tieres ergibt sich demgemäß, dass das Tier auch unter Anleitung eines Menschen spezifische Tiergefahren verwirklichen kann.
Die T pfeift den Hund zurück und gibt damit einen Anstoß für das tierische Verhalten. Auf das Zurückrennen des Hundes besteht dann aber keine Einfluss- und Zugriffsmöglichkeit mehr. Unbeherrschbar war beispielsweise der konkrete Weg des Hundes, seine Kraftentfaltung und sein Energieeinsatz sowie die Geschwindigkeit mit der er sich bewegte. Daraus kann sich gerade eine Unberechenbarkeit des tierischen Verhaltens als Reaktion auf die menschliche Leitung ergeben.
Für das Schutzbedürfnis des Opfers spielt es keine Rolle, ob ein Hund sich losgerissen hat oder zurückgerufen wurde.
Daraus ergibt sich folglich, dass T zwar die Leitung des Hundes ausgeübt hat, dieser Umstand aber die spezifische Tiergefahr nicht entfallen lässt. Das weitere zu den Verletzungen der F führende Zurückrennen des Hundes war nicht durch T kontrollierbar oder beeinflussbar und somit hat sich eine spezifische Tiergefahr verwirklicht.
Diese Ausweitung des Begriffs der Tiergefahr wird teils kritisch betrachtet, insbesondere mit Blick auf den Sinn und Zweck der Gefährdungshaftung. Um dies zu umgehen könne für eine Haftung des B gem. § 833 BGB an das Hinlaufen des Hundes zu
dem Mäuseloch angeknüpft werden, da dieses allein die selbstständige tierische Energie des Tieres ausdrücke, ohne die Leitung eines Menschen.
D. In der Prüfung
§ 833 BGB
1. Rechtsgutverletzung
2. Durch ein Tier
a. Kausalität
b. Verwirklichung einer spezifischen Tiergefahr
3. Anspruchsgegner als Tierhalter
4. Keine Exkulpation, § 833 S. 2 BGB
5. Schaden
6. Haftungsausfüllende Kausalität
7. Ergebnis
E. Literaturhinweise
NJW 2024, 3293 m. Anm. Matthias Ehmer
BGH NJW-RR 2006, 813, 814