Entscheidung der Woche 06-2023 (ÖR)
Rim Talal
Schwierigkeiten, einen einschränkenden Rechtsbegriff zu definieren, dürfen nicht zur Streichung des Begriffs führen und rechtfertigen die damit einhergehende Intensivierung des Eingriffs nicht.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: EuGH, Urt. v. 22.11.2022- C-37/20, C-601/20
in: BeckRS 2022, 32382
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Schwierigkeiten, einen einschränkenden Rechtsbegriff zu definieren, dürfen nicht zur Streichung des Begriffs führen und rechtfertigen die damit einhergehende Intensivierung des Eingriffs nicht.
2. Auch wenn der Unionsgesetzgeber eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt, darf er keine Eingriffe vorsehen, deren Folgen außer Verhältnis zu den verfolgten Zielsetzungen stehen. Verhältnismäßig ist der Eingriff nur, wenn die mit dem Eingriff verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht.
B. Sachverhalt
Die Richtlinie 2015/849/EU zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (Geldwäscherichtlinie) verpflichtet die Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen, aufgrund derer in ihrem Gebiet ansässige Gesellschaften Auskünfte zu ihren wirtschaftlichen Eigentümern zur Eintragung in ein Register anmelden müssen. In der ursprünglichen Fassung verpflichtete die Geldwäsche-RL die Mitgliedstaaten nicht nur Auskunftsrechte für Behörden und Geldinstitute, sondern auch für Privatpersonen vorzusehen, sofern diese ein berechtigtes Interesse nachweisen.
Durch die Richtlinie 2018/843/EU wurde die Richtlinie dahingehend geändert, dass jedermann Zugriff auf die Daten hat, ohne ein berechtigtes Interesse nachweisen zu müssen. Zur Begründung gab die Kommission an, dass Schwierigkeiten bestanden hätten, den Begriff des berechtigten Interesses zu definieren. Die mitgliedstaatlichen Vorschriften dürfen vorsehen, dass Zugriffsbeschränkungen von den Betroffenen für den Fall beantragt werden können, dass sie und ihre Familie spezifisch, real und gegenwärtig einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung ausgesetzt werden. Luxemburg setzte die Richtlinie um. W, der Nachteile für sich und seine Familie befürchtet, beantragt eine Beschränkung des Datenzugangs, die von der zuständigen Behörde abgelehnt wird. W klagt vor dem luxemburgischen Gericht und trägt vor, dass die geänderte Richtlinie gegen Art. 7, 8 GRCh verstoße. Daraufhin setzt das luxemburgische Gericht das Verfahren aus und legt dem Gerichtshof die Frage, ob die Richtlinie gültig sei.
C. Anmerkungen
Der Gerichtshof wird auf die Vorlagefrage antworten, dass die geänderte Geldwäscherichtlinie ungültig ist, wenn die Vorschrift Art. 7, 8 GRCh verletzt. Die GRCh ist gemäß Art. 51 I S. 1 Hs. 1 GRCh anwendbar. Art. 7 GRCh schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie der Kommunikation. Art. 8 GRCh hingegen schützt die personenbezogenen Daten. Dies sind alle Informationen über eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person. Soweit die geänderte Richtlinie vorsieht, dass jedermann Zugriff auf personenbezogene Daten von anderen Personen hat, ist das Recht auf Achtung des Privatlebens berührt, obwohl die betreffenden Daten sich auf berufliche Tätigkeiten beziehen. Der Schutzbereich von Art. 7, 8 GRCh ist eröffnet. Der durch die geänderte Richtlinie vorgesehene Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer stellen einen Eingriff in Art. 7, 8 GRCh dar. Dieser wiegt schwer, da diese Daten einer potenziell unbegrenzten Zahl von Personen zugänglich sind. Ferner können auch Personen auf die Daten zurückgreifen, die andere Ziele verfolgen. Nach der Geldwäscherichtlinie werden solche Angaben nicht in dem Register erfasst, die keinen angemessenen Bezug zu den Zielsetzungen der Geldwäscherichtlinie aufweisen, sodass der Wesensgehalt nach Art. 52 I S. 2 GRCh nicht verletzt ist. Es verbleiben personenbezogene Daten, die nicht veröffentlicht werden.
Nach Art. 52 I S. 2 GRCh muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein. Die Geldwäscherichtlinie dient dem Zweck Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu verhindern. Dies stellt eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung dar, die auch schwere Eingriffe in Art. 7, 8 GRCh rechtfertigen kann. Die Aufnahme der Daten in ein Register und die Ermöglichung des Zugangs durch jedermann sind geeignet, zur Verhinderung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung beizutragen, da hierdurch Transparenz geschaffen wird. Der Eingriff müsste erforderlich sein. Als milderes Mittel kommt die Beschränkung des Jedermann-Zugriffs auf Fälle in Betracht, in denen diese ein berechtigtes Interesse nachweisen. Fraglich ist, ob die Ausführungen der Kommission, dass sich der Begriff des berechtigten Interesses nur schwer definieren lässt, als Rechtfertigung für die Erweiterung des Zugangs genügen. Es ist festzustellen, dass Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Begriffs „berechtigtes Interesse“ nicht rechtfertigen kann, dass der Zugang zu personenbezogenen Daten jedermann gewährt wird. Die geänderte Geldwäscherichtlinie ist ungültig, soweit sie jedermann ohne Beschränkung Zugang zu den Informationen gewährt.
D. In der Prüfung
1. Anwendbarkeit der GRCh
2. Schutzbereich
3. Eingriff
4. Rechtfertigung
E. Literaturhinweise
m. Anm. Sandhu, NJW 2023, 199.