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Entscheidung der Woche 08-2021 (ÖR)

Nils Grimmig

Die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste ist angesichts ihrer in der Regel verdeckten Arbeitsweise und des damit verbundenen Risikos von Missständen von hervorragender Bedeutung.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BVerfG 2 BvE 4/18

in: BeckRS 2020, 4046

 

A. Leitsätze

1. Die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste ist angesichts ihrer in der Regel verdeckten Arbeitsweise und des damit verbundenen Risikos von Missständen von hervorragender Bedeutung. Dies gilt grundsätzlich auch im Hinblick auf den Einsatz von V-Personen.

2. Die Bundesregierung kann eine Mitwirkung an der Vernehmung eines V-Person-Führers im Untersuchungsausschuss unabhängig von einer konkreten Grundrechtsgefährdung unter Berufung auf eine Vertraulichkeitszusage verweigern, wenn Gründe des Staatswohls dies im Einzelfall zwingend erfordern. Dies kann in besonders gelagerten Sachverhalten der Fall sein, wenn allein die Zusage und Wahrung uneingeschränkter Vertraulichkeit die Arbeitsfähigkeit der Nachrichtendienste in einem bestimmten Milieu gewährleistet. Solche spezifischen Umstände bedürfen jedoch einer besonderen vorherigen Begründung.


B. Sachverhalt

Der Deutsche Bundestag setzte am 01. März 2018 in Reaktion auf den Anschlag am Breitscheidplatz vom 16. Dezember 2016 den 1. Untersuchungsausschuss der 19. Wahlperiode ein, um mögliche Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bezüglich der Verhinderung des Anschlags aufzuklären. In diesem Zuge forderte der Untersuchungsausschuss das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat dazu auf, eine V-Person namentlich zu benennen, die mutmaßlich im Umfeld der von Amri regelmäßig besuchten Fussilet-Moschee vom Bundesamt für

Verfassungsschutz geführt wurde.

Diese Aufforderung lehnte das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat unter Berufung auf eine uneingeschränkte Vertraulichkeitszusage gegenüber der V-Person ab. Daraufhin leitete eine qualifizierte Minderheit im 1. Untersuchungsausschuss der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ein.


C. Anmerkungen

Der zulässige Antrag ist unbegründet. Zunächst steht dem Deutschen Bundestag gemäß Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG das Recht zu, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Dieser darf zur Erfüllung seines Untersuchungsauftrages Zeugen – auch V-Personen – vorladen und vernehmen. Dieses Recht des Deutschen Bundestages hat das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat durch die Verweigerung der Benennung der V-Person beeinträchtigt.

Die Beeinträchtigung ist indes gerechtfertigt. Das Enqueterecht des Parlaments wird sowohl durch die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste als auch durch die Grundrechte der V-Personen begrenzt. Hier sind für den Identitätsschutz der V-Person ausreichende Geheimschutzvorkehrungen getroffen worden, sodass dessen Grundrechte keine Rechtfertigung darstellen konnten. Jedoch rechtfertigt die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste die Beeinträchtigung. Demnach kann der nachrichtendienstliche Einsatz von V-Personen diesen gegenüber eine umfassende Zusicherung von Vertraulichkeit erfordern. Wird dieses Vertrauen gebrochen, besteht die Gefahr, dass die betreffende V-Person ihren Einsatz nicht weiter fortführen wird und dass sich zukünftig weniger neue Quellen akquirieren lassen.

An diesem Punkt müssen nach dem BVerfG Aufklärungs- und Geheimhaltungsinteressen in der Weise in Ausgleich gebracht werden, dass beide soweit wie möglich ihre Wirkung entfalten (praktische Konkordanz). Hier war zu berücksichtigen, dass die islamistische Szene in Kleinstgruppen organisiert ist und besonders stark abgeschottet agiert. Ein Verrat an der Gruppe wird religiös aufgeladen und mit allen Mitteln bekämpft. Daher erachtet das BVerfG das zwingende Erfordernis einer Vertraulichkeitszusage als plausibel. Außerdem sei dem Aufklärungsinteresse des Untersuchungsausschusses durch die Benennung des Vorgesetzten des V-Person-Führers als Zeugen teilweise entsprochen worden. Das Aufklärungsinteresse des Parlaments hat hier folglich hinter den überwiegenden Belangen des Staatswohls zurückzutreten.


D. In der Prüfung

Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG

I. Zulässigkeit

II. Begründetheit

1. Rechtsposition des Antragsstellers

2. Beeinträchtigung

3. Rechtfertigung

a) Grundrechte der V-Person

b) Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste (P)


E. Literaturhinweise

Rusteberg, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser: V-Leute mit Verfassungsrang II, VerfBlog, 2021/2/05 https://verfassungsblog.de/kontrolle-ist-gut-vertrauen-ist-besser/;

Barrot/Faeser, Zeugenvernehmungen von V-Leuten in parlamentarischen

Untersuchungsausschüssen, NVwZ 2016, 1205.

 

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