Entscheidung der Woche 13-2025 (ÖR)

Elias El Bekkouri
Sobald eine Zuständigkeitsgrundlage des IStGH gemäß Artikel
12(2)(a) oder (b) des Statuts gegeben ist, ist keine weitere erforderlich.
Aktenzeichen und Fundstelle
Az.: ICC-01/18-374 - 21. November 2024
Fundstelle: www.icc-cpi.int/court-record/icc-01/18-374
A. Orientierungs - oder Leitsätze (übersetzt und gekürzt)
13. Sobald eine Zuständigkeitsgrundlage des IStGH gemäß Artikel12(2)(a) oder (b) des Statuts gegeben ist, ist keine weitere erforderlich.
15. Es ist zwischen einer vermuteten und einer bereits res judicata (rechtskräftig entschiedenen) Gerichtsbarkeit des IStGH sowie Klagebefugnis eines Staates zu unterscheiden.
17. Staaten sind laut dem Statut nicht berechtigt, die
Gerichtsbarkeit des IStGH auf der Grundlage von Artikel 19 anzufechten, bevor ein Haftbefehl oder eine Vorladung erlassen wurde. [...] Die Anfechtung der Gerichtsbarkeit erfordert einen konkreten Fall.
B. Sachverhalt
Im Jahr 2015 trat Palästina dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bei und erkannte dessen Gerichtsbarkeit rückwirkend ab dem Jahr 2014 an. Im Kontext des Nahostkonflikts ersuchte Palästina 2018 Ermittlungen durch den IStGH hinsichtlich möglicher Menschenrechtsverletzungen durch Israel. In Reaktion darauf leitete die Anklagebehörde des IStGH im Jahr 2021 Untersuchungen zu möglichen völkerrechtlichen Verstößen seitens Israels im Gazastreifen, dem Westjordanland sowie in Ostjerusalem ein. Im Rahmen dieser Ermittlungen beantragte der Chefankläger des IStGH, Karim A.A. Khan, am 20.
Mai 2024 bei der Vorverfahrenskammer die Ausstellung von Haftbefehlen gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu sowie den ehem. Verteidigungsminister Yoav Gallant.
Sie werden u.A. der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtigt. Konkret, die palästinensische Zivilbevölkerung auszuhungern, medizinische Hilfe zu blockieren, zivile Infrastruktur anzugreifen, im Westjordanland Zwangsumsiedlungen durchzuführen sowie unverhältnismäßige Gewalt im Gazastreifen anzuwenden. Israel ficht diese Haftbefehle an und argumentierte, dass Palästina kein souveräner Staat sei und dem Gericht somit keine territoriale Zuständigkeit zustehe.
Darüber hinaus führte Israel an, dass es selbst kein Vertragsstaat des Römischen Statuts der internationalen Strafgerichtsbarkeit sei und den IStCH nicht anerkenne, wodurch eine gerichtliche Zuständigkeit auch nicht gegeben sei. Der Internationale Strafgerichtshof veröffentlichte am 21. November 2024 die Entscheidung über die Rüge Israels und wies diese ab.
C. Anmerkungen
Das Gericht setzt sich mit der Zulässigkeit der von Israel erhobenen Rüge gegen die Zuständigkeit des IStGH auseinander.
Dabei verweist es auf frühere Entscheidungen, insbesondere auf den Beschluss vom 5. Februar 2021, mit dem die territoriale Zuständigkeit des Gerichts für die seit dem 13. Juni 2014 begangenen mutmaßlichen Straftaten im Gebiet des Staates Palästina, einschl. des Gazastreifens, dem Westjordanland und Ostjerusalem bejaht wurde. Die Kammer weist Israels Argument zurück, dass Palästina nicht die völkerrechtliche Kompetenz besitze, dem IStGH seine Hoheitsgewalt zu übertragen. Sie stellt klar, dass es nach Art. 12 Abs. 2 des Römischen Statuts genügt, Wenn ein Staat, auf dessen Territorium die fraglichen Taten begangen wurden, der Gerichtsbarkeit des IStGH beigetreten ist.
Damit erkennt auch der IStGH die staatliche Souveränität
Palästinas als Mitgliedstaat an und stellt seine Zuständigkeit abschließend fest. Eine Zustimmung, insbesondere von Israel, sei nicht erforderlich. Zudem betont der IStGH, dass eine Zuständigkeitsrüge einen konkreten Fall erfordert. Nach Art. 19 Abs. 2 des Statuts ist eine Zuständigkeitsrüge erst zulässig, wenn ein Haftbefehl bereits ausgestellt wurde. Zum Zeitpunkt der Rüge Israels hatte der IStGH dem Antrag des Chefklägers Khan noch nicht stattgegeben. Das Gericht lehnt die Rüge Israels daher ab.
Etwa ein halbes Jahr später verkündete die Vorverfahrenskammer
I des IStGH die Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant, wodurch diese Bestandskraft erlangten. Eine erneute Rüge wäre damit zulässig, jedoch materiell unbegründet.
D. In der Prüfung, Art. 19 Abs. 1, 2 IStGH-Statut
I. Zuständigkeit des IStGH, Art. 19 Abs. 1
Sachliche Zuständigkeit, Art. 5 ff. (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Aggression)
Zeitliche Zuständigkeit, Art. 11
Örtliche Zuständigkeit, Art. 12 Abs. 2
Persönliche Zuständigkeit, Art. 25
Komplementarität Art. 17Abs. 1 - 3
II. Zuständigkeitsrüge, Art. 19 Abs. 2
Befugnis
Zeitpunkt, Art. 19 Abs. 4
Prüfung durch Vorverfahrenskammer
III. Rechtsfolge
Erfolg = IStGH ist unzuständig
Misserfolg = IStGH ist zuständig und setzt Verfahren fort
E. Literatur- und Vertiefungsempfehlung
Quellen des IStGH (Arabisch, Englisch, Hebräisch):
Zusammenfassung des Urteils: https://t1p.de/4m342
Angeklagtenprofil Netanyahu: https://t1p.de/Ifx4s
• Angeklagtenprofil Gallant: https://t1p.de/xrmzm
Statement des Chefanklägers Khan: https://t1p.de/v2k04
Zur Anerkennung Palästinas als Staat i.S.d. IStGH-Statuts:
Stegmiller: „Palästinas Aufnahme als Mitgliedstaat des Internationalen Strafgerichtshofs" (Heft 2, ZaöRV 2015, 435)
Kooperationspflicht Deutschlands: Vergleich zum Haftbefehl Putin:
„Müsste Deutschland Netanjahu verhaften?" (Heft 12, FD-StrafR
2024, 811892)
Zur Kollision des IStGH mit deutschen Gerichten sowie Immunität:
• Knauer, Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung: StPO,
2. Aufl. 2023, Bd. 4 (insb. § 20, III. Allg. Regelungen)
Definition und Konkurrenzen: „Verbrechen gg. d. Menschlichkeit":
• BGH (3. Strafsenat), Beschl. v. 07.10.2021 - AK 43/21 (BGH LSK2021, 32683 = StV Spezial 2022, 5 [Ls.])
Allgemeines zum Völkerstrafrecht:
Kudlich, Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2025, Bd. 9
Ambos, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2022, Bd. 9 (insb. VStGB § 1 ff.)
Onlineartikel der UN: „What is the ICC?" https://t1p.de/faa5h
Verkündungsblatt des Rates der Europ. Union zur Anerkennung:
„EU - Internationaler StrafgerichtshofB* (B 2011/168 /EU)
Onlineartikel von Amnesty International zu den Haftbefehlen: