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Entscheidung der Woche 20-2024 (ÖR)

Dennis Ainto

Der Staat genießt grundsätzlich keinen Ehrschutz und muss auch scharfe und polemische Kritik unter dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG aushalten.

Aktenzeichen und Fundstelle

Az.: BVerfG, Urt. v. 11.04.2024 - 1 BvR 2290 / 23

Fundstelle: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2024/04/rk20240411_1bvr229023.html

 

A. Orientierungssätze

1. Der Staat genießt grundsätzlich keinen Ehrschutz und muss auch scharfe und polemische Kritik unter dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG aushalten.

2. Zwar sind auch staatliche Einrichtungen in gewissem Umfang vor verbalen Angriffen geschützt, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. Dies unterliegt aber engen Grenzen, da der Schutz nicht dazu führen darf, den Staat gegen öffentliche Kritik zu immunisieren, die vom Grundrecht der Meinungsfreiheit besonders gewährleistet werden soll.

3. Es gibt ein besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik. Auch bei Posts in den sozialen Netzwerken ist insbesondere der Kontext wichtig.


B. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer ist Journalist und Produzent eines YouTube Kanals. Ein Online-Nachrichtenmagazin hatte einen Artikel mit der Überschrift "Deutschland zahlt weiter Entwicklungshilfe für Afghanistan" veröffentlicht hat, dieser Beitrag thematisierte die immer noch andauernden Entwicklungszahlungen an Afghanistan trotz der Machtübernahme der Taliban. Nach der Veröffentlichung setzte der Beschwerdeführer eine zu diesem Artikel verlinkte Kurznachricht ab, die mit einem Miniatur-Portraitbild seiner Person und mit seinem Namen versehen war. Ihr Text lautete: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“ Daraufhin wurde der Beschwerdeführer durch die Bundesministerin abgemahnt, da es sich bei seiner Äußerung um eine falsche Tatsachenbehauptung handele. Die Bundesrepublik Deutschland hat im einstweiligen Rechtsschutz einen Unterlassungsantrag gegen den Beschwerdeführer beantragt, der zunächst abgelehnt, dann aber vom Kammergericht abgeändert und dem Beschwerdeführer die beanstandete Äußerung untersagt. Gegen diesen Beschluss hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, welches dieser nun stattgab.


C. Anmerkungen

Das Bundesverfassungsgericht sah eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gegeben. Das Kammergericht hat die Äußerung des Beschwerdeführers als unwahre Tatsachenbehauptung gewürdigt. Der Beschwerdeführer bewertete die Zahlung von Entwicklungshilfe an Afghanistan als Zahlung an das dortige Regime, was angesichts der Verhältnisse vor Ort und der totalitären Machthaber zulässig sei. Die Angaben des Ministeriums, Zahlungen erfolgen „nicht direkt“ an die afghanischen Machthaber, lasse den Schluss zu die Bundesregierung befürchte oder stelle sogar in Rechnung, dass derartige Mittel indirekt durchaus auch den dortigen Machthabern zufließen könne. Zunächst steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde vor allem nicht der Grundsatz der materiellen Subsidiarität entgegen, denn das dem Beschwerdeführer in der Hauptsache verbleibende Aufhebungsverfahren erscheint angesichts der nicht nur summarischen Prüfung des Kammergerichts aussichtslos.

Nicht zu beanstanden ist allerdings der Ausgangspunkt des Kammergerichts, wonach juristischen Personen des öffentlichen Rechts zivilrechtlicher Rechtsschutz gegen herabsetzende Äußerungen lediglich in eingeschränktem Umfang eröffnet ist, und wonach die rechtliche Beurteilung von Äußerungen maßgeblich von ihrem Sinngehalt und ihrer Einordnung als Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung abhängt. Die Entscheidung des Kammergerichts verstößt aber gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, da sie den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung erkennbar verfehlt. Es verliert aus dem Blick, dass die durch den Beschwerdeführer geübte Kritik an der Bundesregierung als Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und Meinens geprägt ist, auch dann als Meinungsäußerung geschützt wird, wenn sich in ihr Tatsachen und Meinungen vermengten und dass im Hinblick auf die durch das Kammergericht nicht in Erwägung gezogene Kritik des Beschwerdeführers an einer mittelbaren Finanzierung der „Taliban“ weder die Bundesrepublik Zahlungen von Entwicklungshilfe „für Afghanistan“ in Abrede stellt, noch die angegriffene Entscheidung in Zweifel zieht, dass die Gefahr ihres mittelbaren Zugutekommens an die Machthaber in Afghanistan besteht.


D. In der Prüfung

Urteilsverfassungsbeschwerde

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

(P) Rechtswegerschöpfung

(P) Grundsatz der materiellen Subsidiarität

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

(P) Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG


E. Literaturhinweise

Cremer, Der Schutzbereich der grundgesetzlichen Meinungsfreiheit, NVwZ 2023, 1463.

 
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