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Entscheidung der Woche 23-2021 (ÖR)

Anna Ordina

Sowohl ein etwaiger einfach-gesetzlicher Anspruch auf eine Schutzimpfung aus § 20 Abs. 5 Satz 1 IfSG oder aus § 1 Abs. 1 CoronaImpfV als auch der verfassungsrechtliche Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG bestehen nur im Rahmen der aktuell tatsächlich zur Verfügung stehenden Kapazitäten.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: VG Frankfurt a.M., Beschl v. 12.02.2021 – 5 L 219/21.F und

VG Hannover, Beschl. v. 25.01.2021 – 15 B 269/21

in: BeckRS 2021, 2028 bzw.

BeckRS 2021, 627

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

1. Sowohl ein etwaiger einfach-gesetzlicher Anspruch auf eine Schutzimpfung aus § 20 Abs. 5 Satz 1 IfSG oder aus § 1 Abs. 1 CoronaImpfV als auch der verfassungsrechtliche Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG bestehen nur im Rahmen der aktuell tatsächlich zur Verfügung stehenden Kapazitäten.

2. Die Priorisierungsentscheidung der CoronaImpfV ist mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Der Staat erfüllt seine Schutzpflichten für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung und hat die Reihenfolge gestützt auf taugliche Sachgründe – Letalitätsrisiko, Expositionsrisiko, Wichtigkeit der ausgeübten Tätigkeit – unter Rückgriff auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission festgelegt.

3. Einer individuellen Auswahlentscheidung bedarf es nicht. In Massenverfahren ist der Staat auch durch das Gleichheitsgebot nicht gehindert, sich aus Gründen der Verfahrensvereinfachung generalisierender, pauschalierender und typisierender Regelungen zu bedienen. Gemessen hieran ist vorliegend ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht ersichtlich. Die in der CoronaImpfV vorgenommene Einordnung bestimmter Personengruppen in die höchste Prioritätsstufe nach § 2 CoronaImpfV ist durch Sachgründe gerechtfertigt.


B. Sachverhalt (vereinfacht)

Die Antragsteller begehren den Erlass einer einstweiligen Anordnung und machen geltend, einen Anspruch auf unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus Sars CoV-2 zu haben. Es handele sich um einen Härtefall. Das Ermessen des Antragsgegners soll jeweils auf Null reduziert sein. Das durch den Antragsgegner vorgebrachte Argument eines Mangels an Impfstoffes treffe jeweils nicht zu.


C. Anmerkungen

Die Entscheidungen sind zum einen aufgrund der Aktualität relevant und zum anderen, weil sie sich sehr gut eignen, um viele beliebte prüfungsrelevante Aspekte wie z.B. den einstweiligen Rechtsschutz und einen Antrag nach § 123 VwGO sowie nicht gängige Normen und Grundrechte kombiniert abzuprüfen.


D. In der Prüfung

A. Sachentscheidungsvoraussetzungen

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO

– § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG als abdrängende Spezialzuweisung zu den Sozialgerichten (-), weil es sich nicht um eine Angelegenheit der gesetzl. Krankenversicherung, sondern um die Geltendmachung eines infektionsschutzrechtlichen Leistungs- bzw. Teilhabeanspruchs handelt

II. Statthafte Antragsart

Regelungsanordnung i.S.d. § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO

III. Antragsbefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO analog

Anspruch auf vorrangige Impfung aus § 1 Abs. 1 CoronaImpfV, § 20 Abs. 5 IfSG oder Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG

B. Begründetheit

I. Anordnungsanspruch

1. Anspruch aus § 1 Abs. 1 S. 1 CoronaImpfV

a. Vereinbarkeit der Priorisierungsentscheidung in § 1 Abs. 2 S. 1 CoronaImpfV mit Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG; Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, Abs. 3 GG (Vorbehalt des Gesetzes) -> kann offen stehen

b. Der Anspruch besteht nur im Rahmen der Verfügbarkeit vorhandener Impfstoffe

c. Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen Gruppen aus Art. 3 Abs. 1 GG

Der Gesetzgeber ist durch das Gleichheitsgebot nicht gehindert, sich in Massenverfahren an Stelle eines ausschließlich individuellen Wirklichkeitsmaßstabes aus Gründen der Verfahrensvereinfachung generalisierender, pauschalierender und typisierender Regelungen zu bedienen.

2. (bei Unwirksamkeit der CoronaImpfV) -> Anspruch aus einem grundrechtlichen Leistungs- und Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG

a. GR grds. als Abwehrrechte gegen den Staat, jedoch bewirken sie zudem Schutzpflichten, die sich zu Leistungsansprüchen verdichten können schafft der Staat ein Leistungsangebot, so entsteht für die Bürger*innen ein Anspruch auf Teilhabe an diesen staatlichen Leistungen. Das Teilhaberecht begründet nicht einen individuellen Anspruch für jedermann auf sofortigen Zugang zum Impfstoff, sondern ein Recht auf gleichheitsgerechten Zugang zum Impfstoff. Deshalb hat die zuständige Behörde im Rahmen des grundrechtlichen Teilhabeanspruchs eine Priorisierungs- und Auswahlentscheidung zu treffen, sodass daraus ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung besteht.

II. Anordnungsgrund


E. Zur Vertiefung

Bilsdorfer/Sigel, NVwZ, 2021, S. 594 – 598;

BeckOK InfSchR/Aligbe, 5. Ed. 10.05.2021, IfSG, § 20 Rn. 59-75a.

 

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