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Entscheidung der Woche 23-2024 (ÖR)

Lenn von Hörsten

Das nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse kommt in den Fällen der sich typischerweise kurzfristig erledigenden Maßnahmen lediglich bei qualifizierten Grundrechtseingriffen in Betracht.

Aktenzeichen und Fundstelle

Az.: BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 - 6 C 2.22

Fundstelle: REWIS RS 2024, 3001

Vorinstanzen: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 05.06.2020 - 17 K 2391/19; OVG Münster, Urt. v. 07.12.2021 - 5 A 2000/20

 

A. Orientierungs- und Leitsätze

1. Das nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse kommt in den Fällen der sich typischerweise kurzfristig erledigenden Maßnahmen lediglich bei qualifizierten Grundrechtseingriffen in Betracht.

2. Ein qualifizierter Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit setzt typischerweise voraus, dass das Verhalten, welches nur dem Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG unterfällt, eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzt.


B. Sachverhalt

Der Kläger ist leidenschaftlicher BVB-Fan und begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines befristeten Betretungs- und Aufenthaltsverbots für die Dortmunder Innenstadt während des „Revierderbys“ zwischen dem BVB und dem FC Schalke 04 am 27. April 2019 um 15:30 Uhr. Das Verbot erging mit Bescheid vom 17. April 2019 und galt von 10:00 – 20:00 Uhr. Die Maßnahme wurde auf § 34 Abs. 2 PolG NRW gestützt (als Niedersächsische Parallelvorschrift vgl. § 17 Abs. 3 NPOG) und wie folgt begründet: Nicht nur werde bei dem emotional aufgeladenen „Revierderby“ mit mehr als 1.000 gewaltbereiten bzw. -suchenden Ultras gerechnet, denen auch der Kläger als Vorsänger – „Capo“ – zuzuordnen sei. Er selbst sei 2016 und 2017 ferner durch Landfriedensbruch und wiederholte Ehrdelikte iSd. §§ 185 ff. StGB gegenüber Polizeibeamten aufgefallen. Man rechne mit weiteren Straftaten und als „Capo“ ginge ohnehin ein besonders hohes Gefahrenpotenzial von ihm aus. Des Weiteren sei die Länge des Verbots verhältnismäßig, da kurzfristige Verbote von geringer(er) Effektivität zeugten.

Gegen den Bescheid erhob der Betroffene am 16. Mai 2019 Fortsetzungsfeststellungsklage, analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO, vor dem Verwaltungsgericht. Klage und Berufung hatten jedoch keinen Erfolg. Es mangele an einem hinreichenden Feststellungsinteresse.


C. Anmerkungen

Auch die Revision wurde am 24. April 2024 vom BVerwG als unbegründet zurückgewiesen, § 144 Abs. 2 VwGO. Das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts ist typischerweise in Fällen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses und des Präjudizinteresses anzunehmen.

Vorliegend scheidet eine Wiederholungsgefahr aus, weil sich der Kläger nach eigener Aussage aus seiner Rolle als „Capo“ zurückgezogen habe und insofern eine Veränderung der Umstände besteht. Ein Rehabilitationsinteresse ist mangels öffentlichkeitswirksamer Verbreitung des Bescheids und aufgrund fehlender genereller stigmatisierender Wirkung von Aufenthaltsverboten auszuschließen. Schließlich besteht auch kein Präjudizinteresse, da kein Staatshaftungsprozess anhängig ist.

Auf Basis des Gebots des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ist ein Feststellungsinteresse aber auch bei Verwaltungsakten anzunehmen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass eine vorgelagerte gerichtliche Überprüfung im Hauptsacheverfahren nicht möglich ist. Das ist hier – bei zehn Tagen zwischen Bescheid und Erledigung – der Fall. Hinzutreten muss jedoch ein qualifizierter (also tiefgreifender, schwergewichtiger) Grundrechtseingriff, da es nach Wertung des § 113 Abs. 1 S. 4 und § 42 VwGO nur in Ausnahmefällen möglich sein soll, Rechtsschutz für bereits erledigte Tatbestände in Anspruch zu nehmen. Genüge ein einfacher Grundrechtseingriff würde es zu einer Egalisierung der Voraussetzung des Feststellungsinteresses kommen, da belastende Verwaltungsakte zwangsmäßig die allgemeine Handlungsfreiheit tangieren. Aus diesem Grund ist insbesondere bei einem Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG eine gesteigerte, mit dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz dieses Eingriffs erforderlich, die sich durch damit verbundene weitere Grundrechtseingriffe oder durch die Eingriffsintensität auszeichnen kann. Maßstab ist hierbei die objektive Bewertung des Gesamtkontextes. In vorliegendem Fall trat jedoch weder ein Eingriff in Art. 11 GG (Freizügigkeit) oder Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Freiheit der Person) noch eine besondere Relevanz zu dem Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG hinzu, da das Verbot ausschließlich die Freizeitgestaltung des außerhalb von Dortmund lebenden Klägers berührte. Im Ergebnis bestand damit Einigkeit in allen Instanzen, dass es an einem angemessenen Feststellungsinteresse des Klägers fehlt, sodass die Revision zurück- bzw. die Klage abzuweisen ist.


D. In der Prüfung

Fortsetzungsfeststellungsklage, analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO

A. Zulässigkeit

I. Allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzungen

II. (P) Fortsetzungsfeststellungsinteresse

1. Wiederholungsgefahr

2. Rehabilitationsinteresse

3. Präjudizinteresse

4. Qualifizierter Grundrechtseingriff ohne Rechtsschutz


E. Literaturhinweise

Bundesverwaltungsgericht – Pressemitteilung Nr. 22/2024

LTO – Legal Tribune Online – Aufenthaltsverbot für Fußballfan kein gewichtiger Grundrechtseingriff

 
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