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Entscheidung der Woche 25-2023 (ZR)

Roman-Hendrik Wilms

Bei sogenannten "Schockschäden”" stellt - wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung - eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des 8 823 Abs. 1 BGB dar,...

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BGH VI ZR 168/21

in: NJW 2023, 983

MDR 2023, 362

 

A. Orientierungs - oder Leitsätze

Bei sogenannten "Schockschäden”" stellt - wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung - eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.


B. Sachverhalt

Der Kläger nimmt den Beklagten auf immateriellen Schadensersatz wegen Verursachung einer psychischen Erkrankung in Anspruch. Die Tochter des Klägers wurde im Alter von fünf und sechs Jahren von dem Beklagten sexuell missbraucht. Der Beklagte wurde durch Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 17. Juni 2016 unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter des Klägers in zehn Fällen rechtskräftig verurteilt. Der Kläger behauptet, er habe eine tiefgreifende reaktive depressive Verstimmung erlitten und diese bei einer Psychologin mittels einer Hypnosetherapie behandeln lassen, nachdem er von den gegen den Beklagten gerichteten Vorwürfen Kenntnis erlangt habe. Während der Dauer der Ermittlungen und des gerichtlichen Verfahrens sei er vom 9. Juni 2015 bis zum 5. August 2016 arbeitsunfähig gewesen. Er sei in dieser Zeit gedanklich nur mit dem Geschehen um seine Tochter beschäftigt und deshalb in seiner Konzentrations- und Antriebsfähigkeit ganz erheblich eingeschränkt gewesen.

Eine Stabilisierung seiner psychischen Verfassung habe sich erst mit Abschluss des Verfahrens langsam einstellen können. Die erlittene Beeinträchtigung, die auf der Kenntniserlangung der Taten des Beklagten zum Nachteil der Tochter des Klägers beruht habe, gehe nach der Art und Schwere deutlich über das hinaus, was Angehörige in derartigen Fällen erfahrungsgemäß als Beeinträchtigung erlitten.


C. Anmerkungen

Die Gesundheitsverletzung des Klägers im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB könnte in Form einer psychischen Störung vorliegen. Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des BGH können psychische Störungen im Bereich der sogenannte Schockschäden eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen, wenn sie pathologisch erfassbar sind, also einen Krankheitswert aufweisen, und über die gesundheitliche Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. An dieser Auslegung hält der Senat nicht länger fest. Bei den Schockschaden Fällen - wie im vorliegenden Fall - stellt eine pathologisch erfassbar psychische Störung, ausgelöst mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsguts bei einem Dritten, eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn die Störung nicht über die gesundheitliche Beeinträchtigung hinausgeht, die Betroffene in einem solchen Fall in der Regel erfahren.

Der Gleichbehandlung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen steht nicht entgegen, dass allein auf die Verletzung bei einem Dritten zurückzuführende Beeinträchtigungen abseits der Fälle in §§ 844, 845 BGB ersatzlos bleiben sollen. Bei Schockschäden ist die Grundlage der Haftung die eigene Gesundheitsverletzung des Anspruchstellers. Dabei ist es nicht zwingend nötig, dass der Anspruchsteller bei dem Unfallereignis anwesend war. Die alte Rechtsprechung führe zu Wertungswidersprüchen, indem eindeutig pathologische psychische Beeinträchtigungen naher Angehöriger eines Opfers einer besonders schwerwiegender Straftat nur deshalb nicht als Gesundheitsverletzung angesehen würden, weil eine solche Reaktion im Regelfall zu erwarten wäre, bei weniger schwerwiegenden Straftaten aber zu bejahen wäre, wenn die Beeinträchtigung regelmäßig nicht auftritt.

Die Einschränkung, damit insbesondere bei lediglich fahrlässigen Herbeiführungen die Haftung nicht ins Uferlose ausartet, kann auf anderen Ebenen als bei dem Merkmal der Gesundheitsverletzung vorgenommen werden. Insbesondere muss der Krankheitswert dargelegt und dem Zurechnungszusammenhang Aufmerksamkeit geschenkt werden.


D. In der Prüfung

§§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB

I. Haftungsbegründender Tatbestand

1. Rechtsgutsverletzung (P)

2. Handeln oder Unterlassen

3. Haftungsbegründende Kausalität

II. Rechtswidrigkeit

III. Verschulden

IV. Ersatzfähiger Schaden, § 253 Abs. 2 BGB

V. Haftungsausfüllende Kausalität

VI. Einwendungen und Einreden des Schädigers


E. Literaturhinweise

Förster in: BeckOK, 66. Edition, § 823 BGB Rn. 113a.

 

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