Entscheidung der Woche 26-2023 (SR)
Morris Timme
Auch wenn Straßenblockaden mit Klebeaktion auf den Klimawandel hinweisen, sind sie als verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB anzusehen.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: LG Berlin, Urt. v. 18.01.2023 - 518 Ns 31/22
in: RÜ 6/23, 376 f.
A. Orientierungs - oder Leitsätze
1. Auch wenn Straßenblockaden mit Klebeaktion auf den Klimawandel hinweisen, sind sie als verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB anzusehen.
2. Für die Frage der Verwerflichkeit bei der Mittel-Zweck-Relation ist vor allem das Gewicht des Eingriffs in die Rechte Dritter entscheidend.
B. Sachverhalt
Um öffentliche Aufmerksamkeit für die seiner Meinung nach unzureichenden Maßnahmen der Bundesregierung gegen ein Fortschreiten des Klimawandels zu erregen, beteiligt sich Klimaaktivist K, Mitglied der „Letzten Generation“, am 04.02.2022 gegen 7:15 Uhr mit elf weiteren Personen an einer vorher nicht angemeldeten und bewusst im Berufsverkehr gebildeten Straßenblockade auf der stark befahrenen Berliner Bundesautobahn 100. Die Teilnehmer bildeten eine Menschenkette, von denen sich die ganz außen Sitzenden auf der Straße festgeklebt haben. Die Beteiligten hatten mehrere Transparente mit den Aufschriften „Aufstand der letzten Generation“ und „Essen retten – Leben retten“ ausgebreitet. Die Versammlung wurde durch Wegtragen der Teilnehmer aufgelöst (u.a. der K um 7:51 Uhr), da auf die Anweisung der Polizei, sich auf einen naheliegenden Gehweg auf einer Brücke zu begeben, keine Reaktion erfolgte. Die angeklebten Aktivisten konnten erst um 8:45 Uhr von der Fahrbahn entfernt werden. Dies führte dazu, dass zwischen 7:15 Uhr und 8:45 Uhr kein Fahrzeug die Ausfahrt passieren konnte. Folglich kam es zu erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen in Form eines Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge. K ist der Auffassung, dass sein Tun bloßer „ziviler Ungehorsam“ und wegen des „Klimanotstands“ gerechtfertigt sei.
Strafbarkeit des K gem. § 240 Abs. 1 StGB?
C. Anmerkungen
Das Amtsgericht hat eine Strafbarkeit des K gem. § 240 Abs. 1 StGB wegen Nötigung angenommen. Das Landgericht hat dem in der Berufungsinstanz zugestimmt. Es bestätigte das Vorliegen des Gewaltbegriffs i.S.d. § 240 StGB, da der dafür erforderliche physische Zwang zwar nicht für die direkt vor den Protestierenden stehenden Fahrzeugführer zu spüren war, jedoch für die hinter diesen - also in zweiter Reihe und weiteren, dahinter befindlichen Reihen - stehenden Fahrzeugführer („Zweite-Reihe-Rspr.“). Durch die an der Weiterfahrt gehinderten Fahrzeuge liegt weiterhin ein Nötigungserfolg vor. K handelte auch vorsätzlich, insbesondere hat er die Tat während der Berufungshauptverhandlung eingeräumt. Fraglich ist, ob der K auch rechtswidrig gehandelt hat. Allgemeine Rechtfertigungsgründe sind vorliegend nicht einschlägig. Jedoch muss die Rechtswidrigkeit auch positiv festgestellt werden, da diese gem. § 240 Abs. 2 StGB nur vorliegt, wenn die Tat als verwerflich anzusehen ist.
Straßenblockaden sind nicht per se als verwerflich anzusehen, da sie dem Grundrechtsschutz des Art. 8 GG unterfallen, auf welchen sich der K auch beruft. Für die Prüfung der Verwerflichkeit ist eine Prüfung der Mittel-Zweck-Relation vorzunehmen, bei der das Gericht die politischen Ziele der Versammlung weder zu bewerten noch als Zweck im Rahmen der Mittel-Zweck-Relation zu berücksichtigen hat. Als Zweck der Versammlung hat das Gericht die gezielte Lahmlegung des Verkehrs angenommen, um öffentliche Aufmerksamkeit für die politischen Ziele der Teilnehmer zu erregen. Berücksichtigt wurden auch die Umstände des Einzelfalls. Durch die Länge der Blockade von anderthalb Stunden und der fehlenden vorherigen Bekanntgabe mussten die Verkehrsteilnehmer eine erhebliche Freiheitsbeschränkung hinnehmen, ohne dass sie sich auf diese vorbereiten konnten. Zudem war den Blockierten ein spontanes Ausweichen nicht möglich. Zwar wurde ein gewisser Sachbezug zwischen den Schadstoffemissionen der blockierten Fahrzeuge und dem Fortschreiten des Klimawandels gesehen, dieser wurde jedoch als zu gering erachtet. Im Ergebnis wurde die Straßenblockade als verwerflich bewertet, womit die Tat auch rechtswidrig ist. Folglich hat sich K wegen Nötigung gem. § 240 StGB strafbar gemacht.
D. In der Prüfung
§ 240 Abs. 1 StGB
I. Obj. Tatbestand
1. Nötigungshandlung
2. Nötigungserfolg
3. Kausalität zwischen Nötigungshandlung und Nötigungserfolg
II. Subj. Tatbestand
III. Rechtswidrigkeit
1. Fehlen von Rechtfertigungsgründen
2. Verwerflichkeit
a) aufgrund des Zwecks
b) aufgrund des Mittels oder
c) aufgrund der Mittel-Zweck-Relation
IV. Schuld
V. Strafzumessung, § 240 IV
VI. Ergebnis
E. Literaturhinweise
MüKoStGB/Sinn, 4. Auflage 2021, StGB § 240 Rn. 139 ff.;
Fischer, StGB, 70. Auflage 2023, § 240 Rn. 14 ff.;
Schönke/Schröder/Eisele, 30. Auflage 2019, StGB § 240 Rn. 29.