Entscheidung der Woche 28-2024 (SR)
Emily Letkemann
Vorsätzlich handelt ein Fahrer im Straßenverkehr bei der Verletzung einer anderen Person nur, wenn er selbst die Verletzung der eigenen Person billigend in Kauf nimmt.
Aktenzeichen
Az.: LG Osnabrück, Urt. v. 14.06.2024 - 6 Ks 4/24
A. Orientierungs - oder Leitsätze
1. Vorsätzlich handelt ein Fahrer im Straßenverkehr bei der Verletzung einer anderen Person nur, wenn er selbst die Verletzung der eigenen Person billigend in Kauf nimmt.
2. Dies gilt auch, wenn der Täter mit „Gefährdungsvorsatz“ handelte, da er nicht unbedingt mit Tötungs- oder Körperverletzungsvorsatz agierte.
B. Sachverhalt
Am frühen Morgen bedrängte der Angeklagte den Fahrer eines VW Phaeton auf der Autobahn, indem er mit seinem Auto mehrfach auffuhr und wieder abbremste. Der Angeklagte fuhr sodann auf die linke Spur, auf die selbe Höhe des anderen Fahrzeugs. Er lenkte immer wieder ruckartig nach rechts, um den Fahrzeugführer zu schikanieren. Dadurch kollidierten die beiden Autos miteinander. Der VW Phaeton flog über die rechtsseitige Außenleitplanke, überschlug sich und blieb in einer Entfernung von 100 Metern liegen. Der Fahrer des VW Phaeton wurde schwerverletzt und ist noch heute nicht arbeitsfähig. Der Beifahrer verstarb vor Ort. Der Angeklagte hielt am Fahrbahnrand an, doch hat er keine rechtzeitigen Maßnahmen zur Feststellung seiner Beteiligung an dem Unfallgeschehen ergriffen.
C. Anmerkungen
Zunächst ist die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit der Tötung zu bestimmen. Der Tötungsvorsatz setzt das Wissens- und Wollenselement voraus, also dass der Täter die Tötung für möglich hält und sie billigend in Kauf nimmt. Bei der sogenannten bewussten Fahrlässigkeit hält der Täter den Eintritt des Todes für möglich, vertraut aber zugleich darauf, dass dieser Erfolg nicht eintritt.
Laut dem LG Osnabrück hätte der Angeklagte mit seinem Verhalten die Verletzung seiner eigenen Person und die Beschädigung des von ihm geführten Autos nicht billigend in Kauf genommen.
Somit hat der Angeklagte durch seine rücksichtslose und gefährliche Fahrweise zwar mit „Gefährdungsvorsatz“ gehandelt, aber nicht mit Tötungsvorsatz, Körperverletzungsvorsatz oder Sachbeschädigungsvorsatz.
Dieses Argument deckt sich auch mit dem Urteil des BGH im „Berliner Raser-Fall“ (BGH, Urt. v. 01.03.2018, Az. 4 StR 399/17), da auch hier auf die Sicht des Täters abgestellt wurde, ob er durch sein Verhalten auch die Gefahr, die auf seine eigene körperliche Integrität drohte, gewollt hatte.
Deshalb ging das LG Osnabrück davon aus, dass der Angeklagte drauf vertraute, dass die Fahrzeuge nicht kollidieren würden. Außerdem wäre der Winkel der Fahrzeuge zueinander sehr spitz gewesen, was gegen eine vorsätzliche Tat spricht.
Somit wurde der Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) zu einer Gesamtfreiheitstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Bei der vorsätzlichen Tötung (§ 212 Abs. 1 StGB) wäre der Strafrahmen nicht unter fünf Jahre geblieben. Das Gericht sah außerdem von einer Strafbarkeit wegen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) und wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) ab. Zudem kam es zu keiner Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) mangels Strafantrags und besonderen öffentlichen Interesses (§ 230 StGB).
Der Angeklagte hat keine rechtzeitigen Maßnahmen zur Festellung seiner Beteiligung an dem Unfallgeschehen ergriffen, weshalb dieser auch wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) verurteilt wurde.
D. In der Prüfung
§ 222 StGB
A. Tatbestand
I. Tötungserfolg
II. Tötungshandlung
III. Objektive Sorgfaltspflichverletzung
1. Objektive Vorhersehbarkeit
2. Objektive Vermeidbarkeit
IV. Kausalität
V. Objektive Zurechnung
B. Rechtswidrigkeit
C. Schuld
I. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
II. Subjektive Vorhersehbarkeit
III. Subjektive Vermeidbarkeit
D. Ergebnis
E. Literaturhinweise
Vgl. Tofahrn, Strafrecht Besonderer Teil I, 5. Auflage, 2023, Rn.120.
Vgl. Eisele/ Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil, 1. Auflage, 2020, Rn. 133.