Entscheidung der Woche 30-2024 (ZR)
Lea Kramer
Die Pflicht, beim Überholen einer Kolonne im Falle einer sich auftuenden Lücke wegen des dann zu häufig gewärtigenden Querverkehrs besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht auf die Erhaltung der eigenen Vorfahrt zu vertrauen (sog. Lückenrechtsprechung), besteht nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw.
Aktenzeichen und Fundstelle
Az.: BGH VI, Urt. v. 04.06.2024 - VI ZR 374/23
Fundstelle: BeckRS 2024, 16820
A. Orientierungs - oder Leitsatz
Die Pflicht, beim Überholen einer Kolonne im Falle einer sich auftuenden Lücke wegen des dann zu häufig gewärtigenden Querverkehrs besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht auf die Erhaltung der eigenen Vorfahrt zu vertrauen (sog. Lückenrechtsprechung), besteht nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw.
B. Sachverhalt
In diesem Fall hatte der Kläger seitlich an der rechten Straßenseite geparkt. Der Kläger wurde durch einen Lkw, der neben ihm auf der Fahrbahn hielt, am Ausparken gehindert. Daher wollte der Kläger auf der Zufahrt eines angrenzenden Firmengeländes wenden. Zeitgleich fuhr der Beklagte mit seinem Kfz links an dem Lkw vorbei. Auf Höhe der Firmenzufahrt kam es schließlich zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge. Der Kläger verlangt nun den an seinem Kfz entstandenen Sachschaden.
C. Anmerkungen
Streitgegenständlich sind die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
Im Rahmen der Haftungsverteilung des § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG sind die wechselseitigen Verursachungsbeiträge der Parteien abzuwägen. Der Kläger hat als Führer eines Kraftfahrzeugs beim Wenden gem. § 10 S. 1 StVO bzw. beim Einfahren auf eine Fahrbahn gem. § 9 Abs. 5 StVO sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Indem der Kläger am rechten Straßenrand an dem stehenden Lkw vorbei über den Gehweg in den Bereich der Firmenzufahrt gefahren ist, um zu wenden und schließlich den Parkplatz zu verlassen, trifft ihn ein zweifacher Sorgfaltspflichtverstoß nach § 10 S. 1 StVO sowie nach § 9 Abs. 5 StVO. Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den Kläger indiziert nach dem Beweis des ersten Anscheins dessen Verschulden. Diesen Anscheinsbeweis muss der Kläger entkräften, indem er darlegt und beweist, dass es sich um einen atypischen Geschehensablauf handelt, bei dem die Lebenserfahrung nicht weiterhilft. In erster Instanz entschied das LG, dass dem Beklagten die Verletzung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots gem. § 1 Abs. 2 StVO auch unter dem Gesichtspunkt der sog. "Lückenfälle", zur Last fällt.
Das LG wies dem Beklagten eine Mitverschuldensquote von 25 % zu und hatte der Klage damit in erster Instanz teilweise stattgegeben.
Auf die Berufung de Beklagten hat das OLG den Schuldspruch dahingehend geändert, dass der Kläger in vollem Umfang haften muss. Der BGH bestätigte schließlich das Urteil des OLG. Entgegen der Auffassung des LG dürfe dem Beklagten kein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot gem. § 1 Abs. 2 StVO zur Last gelegt werden. Konkrete Anhaltspunkte, dass die Vorfahrt des Beklagten missachtet werden könnte, seien nicht ersichtlich gewesen. Daher konnte der Beklagte nach Ansicht des BGH darauf vertrauen, dass der Ein- und Anfahrende sein Vorfahrtsrecht beachtet.
Auch komme der Grundsatz der "Lückenfälle" nicht zum Tragen.
Die Lückenrechtsprechung findet Anwendung, soweit ein Vorfahrtsberechtigter eine Kolonne von Verkehrsteilnehmern überholt und aufgrund des Stockens der Kolonne und einer Lückenbildung ein konkreter Anlass besteht, dass der Überholende besonders besonnen und rücksichtsvoll fahren muss und nicht auf die Einhaltung seines Vorrangs vertrauen darf. Üblicherweise entstehen Stockungen durch Vorfahrtsverletzungen Dritter, unachtsame Fußgänger oder Fahrzeuge, die anderen das Überqueren der Fahrbahn ermöglichen wollen.
Ein konkreter Anlass sei nach Ansicht des BGH hier nicht gegeben. Der Beklagte hätte keine ins Stocken geratene Kolonne, sondern lediglich einen in zweiter Reihe haltenden Lkw überholt. Auch sei der Lkw nicht wegen des einfahrenden Klägers zum Stehen gekommen. Vielmehr habe er schon an der Straßenseite gehalten. Die Lückenrechtsprechung sei daher nicht auf den zugrundeliegenden Sachverhalt übertragbar.
D. In der Prüfung
§ 7 Abs. 1 StVG
Rechtsgutsverletzung
Bei dem Betrieb eines Kfz
Haltereigenschaft
Kein Ausschluss nach § 7 Abs. 2 StVG
Zurechenbares Verhalten des Klägers
a. Mitverschulden nach § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StVG
aa. Verstoß des Klägers gegen Sorgfaltspflichten gem.
bb. Problem: Verstoß des Beklagten gem. § 1 Abs. 2 StVO/Anwendungsfall
der Lückenrechtsprechung
E. Literaturhinweise
- vertiefend zur Lückenrechtsprechung: OLG Düsseldof, Urt. v.
09.02.2016 - 1 U 50/15; OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014 - 1 U 71/13; OLG Hamm, Urt. v. 20.10.2005 - 27 U 37/05