Entscheidung der Woche 40-2024 (SR)
Laura Bock
Eine tatrichterliche Beweiswürdigung zum Vorwurf eines
vorsätzlichen Tötungsdelikts ist lückenhaft, wenn der Nachweis
des konkreten Ursachenzusammenhangs zwischen der
Tathandlung und dem Tod des Geschädigten im Ergebnis
maßgeblich auf die Wiedergabe der äußeren Geschehensabfolge
durch den Angeklagten gestützt wird, dabei aber offenbleibt, auf
welcher Tatsachengrundlage der Angeklagte selbst zu dieser
Einschätzung gelangt ist.
Aktenzeichen und Fundstelle
Az.: BGH, Beschluss vom 29.05.2024 - 4 StR 138/22
Fundstelle: NJW 2024, 2856; BeckRS 2024, 22316; LSK 2024, 22316
Vorinstanz: LG Essen, Urteil vom 03.11.2021 - 22 Ks 8/21
70 Js 462/20
A. Orientierungs- oder Leitsätze
1. Eine tatrichterliche Beweiswürdigung zum Vorwurf eines vorsätzlichen Tötungsdelikts ist lückenhaft, wenn der Nachweis des konkreten Ursachenzusammenhangs zwischen der Tathandlung und dem Tod des Geschädigten im Ergebnis maßgeblich auf die Wiedergabe der äußeren Geschehensabfolge durch den Angeklagten gestützt wird, dabei aber offenbleibt, auf welcher Tatsachengrundlage der Angeklagte selbst zu dieser Einschätzung gelangt ist.
B. Sachverhalt
Der Angeklagte, ein Facharzt für Anästhesiologie mit intensivmedizinischer Zusatzausbildung, arbeitete zur Tatzeit als Funktionsoberarzt auf der intensivmedizinischen Station eines regionalen Maximalversorgers in Essen, einem ECMO-Zentrum. Hier wurde der Patient H während der zweiten Corona-Welle im Herbst 2020 behandelt. Trotz einer ECMO-Behandlung verschlechterte sich sein Zustand kontinuierlich, was zu einer sehr geringen Aussicht auf Heilung führte. Der Chefarzt beschloss schließlich, die Familie des Patienten einzubestellen, um den mutmaßlichen Patientenwillen zu klären. Am 13. November 2020, nachdem der Angeklagte vom schlechten Gesundheitszustand des Patienten erfahren hatte, täuschte er die Angehörigen darüber, dass die Behandlungsmöglichkeiten erschöpft seien, und beendete die lebenserhaltenden Maßnahmen. Er schaltete das ECMO-Gerät ab und gab dem Patienten Medikamente, die seinen Sterbeprozess beschleunigten. Schließlich entschied er sich, den Sterbeprozess durch die Verabreichung einer tödlichen Dosis Kaliumchlorid zu beenden, was zum Tod des Patienten führte. Der Angeklagte handelte dabei vorsätzlich, um den Tod des Patienten herbeizuführen.
C. Anmerkungen
Ein Mensch tötet, wer seinen Tod durch eine ihm zurechenbare Handlung vorsätzlich verursacht. Bei einem Menschen im Sterbeprozess genügt in objektiver Hinsicht, dass zu der bereits bestehenden, zum Todeseintritt führenden Kausalreihe ein Verhalten des Täters hinzutritt, durch das der Tod frühzeitiger herbeigeführt wird. Dies ist in tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich dann der Fall, wenn das Handeln des Täters hinter den gegebenen Umständen auf der Grundlage anerkannter naturwissenschaftlicher Gesetzesmäßigkeiten als (notwendige) Bedingung für den (früheren) Todeseintritt beschrieben werden kann. Hiervon ist nach ständiger Rechtsprechung auszugehen, wenn die Handlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Dabei ist grundsätzlich gleichgültig, ob neben der Tathandlung noch andere Umstände, Ereignisse oder Geschehensabläufe zur Herbeiführung des Erfolgs beigetragen haben. Ein Kausalzusammenhang in diesem Sinne ist erst zu verneinen, wenn ein späteres Ereignis die Fortwirkung einer früheren Ursache beseitigt und unter Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg allein herbeiführt.
Die Annahme der Strafkammer, das Herz des Geschädigten sei infolge der Verabreichung des Kaliumchlorid durch den Angeklagten stehengeblieben und die Verabreichung des Kaliumchlorids kausal für den (vorzeitigen) Todeseintritt geworden, sei beweiswürdigend nicht tragfähig belegt. Ihre Überzeugung, dass die Verabreichung der Kaliumchloridlösung den Tod des Geschädigten herbeigeführt hat, stütze die Kammer "maßgeblich" auf die Angaben des Angeklagten gegenüber der Ermittlungsrichterin. Zwar sei die generelle Eignung der durch den Angeklagten verabreichten Gesamtmenge von 58,75 ml Kaliumchloridlösung zur Herbeiführung des Todes des Geschädigten tragfähig belegt. Der Nachweis des konkreten Ursachenzusammenhangs werde im Ergebnis jedoch maßgeblich auf die Wiedergabe der äußeren Geschehensabfolge durch den Angeklagten gestützt. Bei dieser Sache bleibe offen, ob die Gesamtmenge des Kaliumchlorids tatsächlich vor Eintritt des Todes wirksam geworden ist oder ob der Tod unabhängig davon - möglicherweise durch die schweren Erkrankungen des Patienten, das Abstellen der lebensnotwendigen Maschinen, die Zugabe anderer Medikamente oder die Zusammenwirkung mehrerer oder aller dieser Umstände - eingetreten sein könne.
Nach alledem kann die Verurteilung des Angeklagten wegen Totschlags nicht bestehen bleiben.
D. In der Prüfung
§ 212 StGB
A. Tatbestand
I. Objektiver Tatbestand
a) Tatobjekt
b) Tathandlung
c) Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg (-)
d) Zwischenergebnis
II. Zwischenergebnis
B. Ergebnis (-)
E. Literaturhinweise
Rönnau/Saathoff, JuS 2024, Grundwissen - Strafrecht: Kausalität,
S. 923