Entscheidung der Woche 43-2024 (SR)
Anna Lange
Auch nach Wegfall des § 217 StGB a.F. beginnt bei regulärem Verlauf die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen (amtlicher Leitsatz).
Aktenzeichen und Fundstelle Az.: BGH, Beschl. v. 02.11.2023 - 6 StR 128/23
Fundstelle: BeckRS 2023, 36415; NStZ 2024, 168
Vorinstanz: LG Verden, Urt. v. 29.11.2022 - 10 Ks 322 Js
6212/15 (102/22)
A. Orientierungs- oder Leitsätze
1. Auch nach Wegfall des § 217 StGB a.F. beginnt bei regulärem Verlauf die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen (amtlicher Leitsatz).
B. Sachverhalt
Die Angeklagte, eine selbstständige Hebamme mit Vorbehalten gegenüber Krankenhausgeburten, betreute eine Hausgeburt. Bei der Nebenklägerin, die die Angeklagte zur Betreuung der Geburt beauftragt hatte, kam es zu einem Blasensprung und dem Einsetzen der Eröffnungswehen. Die Geburt verzögerte sich jedoch über Tage hinweg. Vier Tage nach dem Blasensprung nahm die Nebenklägerin keine Kindbewegung mehr wahr und verspürte einen tiefen Schmerz im Bauchraum. Schließlich verstarb das Kind auf dem Weg ins Krankenhaus an einer Hypoxie durch Aspiration eitrigen Fruchtwassers. Die Angeklagte hatte eine Antibiotikatherapie sowie die notwendig gewordene Verlegung der Mutter ins Krankenhaus unterlassen. Denn die Angeklagte vertrat die ideologische Sichtweise, dass Hausgeburten einer Klinikgeburt uneingeschränkt vorzuziehen seien.
C. Anmerkungen
Das Landgericht Verden hat die Angeklagte wegen Totschlags durch Unterlassen in Tateinheit mit Körperverletzung durch Unterlassen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der BGH hob das Urteil auf. Die Annahme des Tötungsvorsatzes sei nicht ausreichend begründet.
Das Kind müsste zum Todeszeitpunkt dem strafrechtlichen Schutz der §§ 211 ff. StGB unterfallen. Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen der §§ 211 ff. StGB einerseits und der Norm des § 218 StGB andererseits, ist der Beginn der Geburt. Die Geburt beginne bei regelmäßigem Verlauf, in Übereinstimmung mit der vorwiegenden Auffassung im Schrifttum, im Zeitpunkt des Beginns der Eröffnungswehen. Eine solche Wertung ergebe sich aus der Auslegung der einschlägigen Vorschriften. § 218 StGB sanktioniere den Abbruch der Schwangerschaft. Eine Schwangerschaft könne jedoch nach dem Wortsinn dann nicht mehr abgebrochen werden, wenn diese sich bereits in Selbstauflösung befinde. Eine solche Selbstauflösung sei aus medizinischer Sicht dann gegeben, wenn die Eröffnungswehen eingesetzt haben, denn mit diesen beginne im Normalfall der Geburtsvorgang. Der daraus resultierende strengere Strafrechtsschutz sei auch geboten. So können im Zeitpunkt der Eröffnungsperiode medikamentöse und operative Geburtshilfen erforderlich werden, so zum Beispiel bei Wehenschwäche, bei starken Wehen oder bei Geburtshindernissen. In dieser Phase bedürfe das Kind bereits eines besonderen strafrechtlichen Schutzes. Die Eröffnungswehen hatten bei der Nebenklägerin bereits eingesetzt, sodass der Beginn der Geburt als maßgeblicher Zeitpunkt anzunehmen war. Folglich sind die §§ 211 ff. StGB anwendbar. Das Kind war bereits taugliches Tatobjekt im Sinne des § 212 StGB.
Ein Unterlassen sei jedoch nur dann ursächlich für den Erfolg, wenn dessen Eintritt bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. Hierauf muss sich auch der Vorsatz beziehen. Zwar sei der Angeklagten bewusst gewesen, dass sie sich konträr zu den ärztlichen Leitlinien verhielt und erhebliche Risiken für das Leben des Kindes bestanden. Das LG habe jedoch einen Tötungsvorsatz erst für den frühen Morgen des Todestags festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt habe jedoch nur noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Rettung des Kindes bestanden. Eine Verurteilung wegen eines durch Unterlassen begangenen Tötungsdelikts sei nur dann möglich, wenn der Tatvorsatz zum Zeitpunkt bestand, in dem der Erfolg noch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert werden konnte. Dies hat das LG vorliegend nicht ausreichend begründet, sodass der Schuldspruch wegen Totschlags durch Unterlassen aufzuheben ist.
D. In der Prüfung
Strafbarkeit gem. §§ 212, 13 Abs. 1 StGB
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Taugliches Tatobjekt: Mensch i.S.d. §§ 211 ff. StGB
aa. Maßgeblicher Zeitpunkt: Vollendung der Geburt
bb. Maßgeblicher Zeitpunkt: Beginn der Geburt
(1) Beginn der Presswehen
(2) Beginn der Eröffnungswehen
(3) Stellungnahme
cc. Stellungnahme
b. Erfolgseintritt: Tod eines Menschen
b. Unterlassen einer gebotenen Handlung
c. Quasikausalität
d. Objektive Zurechnung
e. Garantenstellung
2. Subjektiver Tatbestand (-)
II. Ergebnis (-)
E. Literaturhinweise
NJW 2024, 298 (m. Anm. Lorenz)
MedR 2024, 258.