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Entscheidung der Woche 45-2023 (ÖR)

Jasmin Wulf

Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 - 2 BvR 900/22

in: BeckRS 2023, 29790

 

A. Orientierungs - oder Leitsätze

1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.

3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.

4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist.

5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

5. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

B. Sachverhalt

2021 wurde nach langer Diskussion mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung der materiellen Gerechtigkeit" § 362 Abs. 1 StPO um Ziffer 5 erweitert. Danach soll es unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sein, erneut Klage gegen einen Freigesprochenen zu erheben, wenn der Vorwurf auf Mord oder Völkermord lautet. Demnach soll eine Wiederaufnahme eines Falles zuungunsten eines Angeklagten auch dann möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweise, beispielsweise durch moderne Technik, dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes oder anderer schwersten Verbrechen verurteilt wird.

Vorher war dies nur möglich bei schweren Verfahrensfehlern oder wenn der Freigesprochene im Nachhinein ein Geständnis ablegte. Im sog. Mordfall Frederike wurde der damalige Angeklagte 1983 mangels Beweisen rechtskräftig freigesprochen. Nach einer neuen DNA-Untersuchung könnte er nun der Täter sein, woraufhin gegen ihn ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wurde. Dagegen legte er Verfassungsbeschwerde ein.

C. Anmerkungen

Das BVerfG urteilte nun, dass die Wiederaufnahme in diesem Fall verfassungswidrig ist. § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO verstößt gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG und ist daher nichtig. Zudem verletzt die Anwendung der Norm auf Freisprüche, die bereits rechtskräftig waren, als die Norm in Kraft trat, das Rückwirkungsverbot. Jedenfalls im Falle neuer Tatsachen oder Beweismittel darf der Gesetzgeber keine Wiederaufnahmemöglichkeiten für Strafverfahren zuungunsten freigesprochener Angeklagter schaffen.

Das grundrechtsgleiche Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG trifft nach Ansicht des Gerichts eine absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Zudem ist diese Vorschrift abwägungsfest und kann nicht durch andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang relativiert werden, auch nicht gegenüber dem Gesetzgeber. Eine Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Strafverfahren ist demnach nur möglich, wenn es darum geht, ein mit rechtsstaatlichen Gründen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben, ohne dass eine Änderung des materiellen Ergebnisses im Vordergrund steht. Eine inhaltlich motivierte Korrektur reicht dafür nicht aus. Zudem wäre auch ein nie endender Strafprozess für die Opfer und Angehörigen eine erhebliche seelische Belastung.

D. In der Prüfung

I. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

II. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

(P) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage

1. Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts des Mehrfachverfolgungsverbots aus Art. 103 Abs. 3 GG

2. Verletzung des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG

E. Literaturhinweise

Singelnstein, Die Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen, NJW 2022, 1058;

Schiffbauer, "Unerträglich als valides Argument des Gesetzgebers? - Aktuelle Normsetzung und das Konzept des Rechts, NJW 2021, 2097;

Aust/Schmidt, Ne bis in idem und Wiederaufnahme, ZRP 2020, 251.

 

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